Am 4.5.2019 sind weltweit Menschen für die Wissenschaft auf die Straße gegangen. Ich war in Köln dabei und hatte die Ehre, bei der Kundgebung Worte an die Anwesenden zu richten. Das hier habe ich gesagt:
Vielen Dank, dass Ihr heute mit uns auf der Straße seid! Für die Wissenschaft! Für eine aufgeklärte Gesellschaft! Dafür, dass es selbstverständlich sein muss, dass politische Entscheidungen auf der Basis der verfügbaren Fakten getroffen werden!
Das Problem, das mich heute hier her treibt, wird sehr gut in diesem Screenshot auf den Punkt gebracht. Das war eine Diskussion in den sozialen Medien. Über irgendwas mit Gesundheit – ob dies und das jetzt gesund ist oder schädlich oder sonst was. Einige Diskussionsteilnehmer führten Ergebnisse aus Studien an. Dieser Teilnehmer antwortete:
„Ich scheiß auf die Wissenschaft. Meine eigenen Beobachtungen und mein gesunder Menschenverstand sind tausendmal richtiger. Wenn ich schon STUDIE höre!“
Für mich spiegelt das den Kern des Problems. Hier wird nicht irgendein Ergebnis angezweifelt – sondern die Wissenschaftliche Methode als Instrument der Wahrheitsfindung.
“Meine eigenen Beobachtungen”. Wie kann es denn auch sein, dass ich als Wissenschaftler mich hinstelle und sage, dass – als Beispiel – homöopathische Globuli nichts als reiner Zucker sind – nicht mehr und nicht weniger? Vielleicht hat diese Person selbst miterlebt, wie Tante Trudes Fersensporn weggegangen ist, nachdem sie Globuli genommen hat. Wieso ist eine Studie mehr wert als diese Erfahrung?
Unser Gehirn hat eine Menge Tricks auf Lager. Zb Bildverarbeitung, durch die wir besonders scharf sehen können. Wir haben auch sehr empfindliche Detektoren für Kausalität, also Ursache und Wirkung. Ich drücke auf den Schalter, das Licht geht an. Ich merke sofort, dass das Licht angegangen ist, WEIL ich auf den Schalter gedrückt habe. Durch diese Tricks unseres Gehirns können wir all das besonders gut. Aber in ganz bestimmten Situationen verursachen diese Tricks ganz bestimmte Fehler. Wenn Linien auf eine bestimmte Art angeordnet sind, sehen wir plötzlich Punkte, die gar nicht da sind. Oder Bewegung, die nicht da ist. Ein Bildverarbeitungsschritt, der eigentlich super ist, verursacht in ganz bestimmten Situationen diesen ganz bestimmten Fehler. Eine optische Täuschung.
Genauso ist das auch mit Kausalität. Wenn Ereignisse in einer bestimmten Reihenfolge eintreten, fühlen sie sich an, als wäre das eine die Ursache für das andere, auch wenn das gar nicht so ist. Eine Kausalitätsillusion. Das liegt nicht daran, dass derjenige dumm ist – das ist einfach die Arbeitsweise unseres Gehirns.
Jetzt haben wir Menschen Werkzeuge entwickelt, um solche Fehler zu vermeiden. Wenn ich wissen will, wie groß ein Raum ist, messe ich einfach mit einem Zollstock. Egal wie trügerisch der Raum geschnitten ist oder wie sehr das Tapetenmuster täuscht – mit dem geeigneten Werkzeug stelle ich die exakte Größe fest.
Die wissenschaftliche Methode ist ein geeignetes Werkzeug, um Kausalität festzustellen. In einer kontrollierten Studie sehe ich, dass die Beschwerden ohne Globuli genauso oft und schnell wieder verschwinden wie mit. Tante Trudes Fersensporn ist also von alleine weggegangen.
Ich sehe Menschen, die die Wirksamkeit von Impfungen bezweifeln. Einige streiten sogar ab, dass Masern überhaupt von Viren ausgelöst werden. Ich sehe Menschen, die auf Geschichten von Wunderheilmitteln hereinfallen und bei schweren Erkrankungen wie Krebs wertvolle Zeit verlieren, weil sie es “erstmal natürlich versuchen” wollen. Menschen, die, weil es bei Tante Trude angeblich gewirkt hat, sich selbst, ihren Kindern oder Haustieren schädliche Substanzen wie Bleichmittel oder Terpentin einflößen.
Hier geht es nicht um ein paar einzelne Leute im Internet. Wenn unwissenschaftliches Denken in der Bevölkerung verbreitet ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es auch in der Politik ankommt und spätestens dann uns alle betrifft. Dann hat man jemanden mit echter Entscheidungsgewalt, der 95.000 Euro für einen “Energieschutzwall” um ein Krankenhaus in den Wind bläst, wie in Wien geschehen. Oder eben Politiker, die den Klimawandel leugnen.
Ich erlebe in den sozialen Medien, wie wissenschaftliche Erkenntnis in einem Wirrwarr aus Stimmen zu nur einer Meinung von vielen wird.
Dem kommen wir nicht bei, wenn wir mehr wissenschaftliche Ergebnisse kommunizieren. Wir müssen vor allem kommunizieren, wie wir zu diesen Ergebnissen kommen. Warum sind wir uns so sicher, dass CO2 ein Treibhausgas ist? Warum sind wir so sicher, dass Masern wirklich von Viren ausgelöst werden? Das sind keine Meinungen, das sind wissenschaftliche Erkenntnisse – und diesen Unterschied können und müssen wir klar machen.
Es gibt so viele wichtige Fragen, die wir als Gesellschaft entscheiden müssen. Wollen wir den Einsatz grüner Gentechnik in der Landwirtschaft? Unter welchen Voraussetzungen dürfen wir Tierversuche machen? Wie stehen wir zu embryonalen Stammzellen? Die Wissenschaft beantwortet diese Fragen nicht für uns, sie liefert nur die Fakten. Sinnvoll diskutieren können wir aber nur, wenn alle Beteiligten die Fakten akzeptieren.
Dafür brauchen wir Glaubwürdigkeit. Wissenschaftler, kommuniziert aufrichtig und ehrlich! Nichts verschweigen, nichts beschönigen, nichts dramatisieren. Wer einen Weltuntergang voraussagt, der dann nicht eintritt, schadet der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft. Und natürlich muss die Wissenschaft sich auch laufend selbst kritisch bewerten. Klingt trivial, aber wenn wir das Vertrauen in Studien verbessern wollen, müssen die Studien auch was taugen. Immer noch haben viel zu viele Experimente in den Lebenswissenschaften unzureichende Gruppengrößen. Dieses Problem ist lange bekannt. Das könnten wir echt langsam mal in den Griff kriegen.
Aber bevor wir uns in den Details von Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation verlieren, will ich noch einmal daran erinnern, wie weit vorne wir anfangen müssen: Der Wert der wissenschaftlichen Methode. Wissenschaftliches Denken muss in der breiten Bevölkerung verankert sein. Wenn nicht, wirds scheiße.
Und dafür brauchen wir Euch! Nicht nur die Wissenschaftler! Egal, was Euer Hintergrund ist, egal was Eure Ausbildung ist – fordert wissenschaftliches Denken ein! Klemmt Euch in die Kommentarspalten, schreibt Leserbriefe! Lasst Politikern nicht durchgehen, wenn sie für ein Anliegen die Fakten opfern – auch nicht, wenn sie inhaltlich euer Anliegen vertreten sollten! Lasst es NGOs und Vereinen nicht durchgehen! Fordert akkurate Berichterstattung über wissenschaftliche Themen in den Medien!
Wissenschaftliches Denken ist eine der größten Errungenschaften unserer Zivilisation. Wir alle müssen das verteidigen. Dankeschön!
Hier noch ein kurzer Bericht über den March vom WDR, in dem ich sogar kurz vorkomme: https://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/aktuelle-stunde/video-march-for-science-in-koeln-demonstration-fuer-die-wissenschaft-100.html
Hier ein kurzer Schnipsel meiner Rede, aufgenommen von echonaut.science auf Instagram. Die macht auch super Wissenschaftsclips, schaut mal rein! https://www.instagram.com/s/aGlnaGxpZ2h0OjE4MDMwNTIzMDMzMTgyMzI4/?utm_source=ig_story_highlights_share&igshid=ro9x8sghj0v1