Auf dem Laminatboden ist ein dunkelbrauner Fleck. “Oh,” sage ich, “das ist bestimmt Kakao. Wir hatten ja gerade welchen.” “Ja,” sagt mein Dreijähriger. “Oder vielleicht Katzenkacke”.
Wir haben keine Katze.
Formal gesehen gibt es keinen Grund, die Katzenkackehypothese zu verwerfen. Dass sich eine Katze unbemerkt über den Balkon hereingeschlichen, schnell bei uns auf den Boden gekackt und sich dann wieder aus dem Staub gemacht hat, ist absolut möglich. Katzen können schließlich ziemlich gut schleichen. Diese Hypothese erklärt auch sehr gut, was wir sehen, nämlich den braunen Fleck. Man muss zugeben, das es eine valide Hypothese ist.
Meine Gegenhypothese mit dem Kakao ist allerdings auch valide. Und sie erklärt ebenfalls, was wir sehen.
Wo wir jetzt keine der beiden Hypothesen eindeutig widerlegen können – müssen wir sie beide als gleichberechtigte Möglichkeiten betrachten?
Das ist ein selten schönes Beispiel für Ockhams Rasiermesser. Die Hypothesen sind zwar beide valide, aber nicht gleich wahrscheinlich. Die Kakaohypothese braucht nur eine einzige Annahme: Als wir das Glas in die Küche getragen haben, ist etwas runtergetropft. Die Katzenkackehypothese hingegen braucht gleich mehrere Annahmen: Die fremde Katze muss reingekommen sein, sie muss gekackt haben, und sie muss wieder verschwunden sein. Schließlich ist sie ja jetzt nicht mehr zu sehen.
Das sind nicht nur mehr Annahmen. Jede davon für sich ist auch noch unwahrscheinlicher als die mit dem Kleckern. Kleckern passiert ständig. Zumindest mir. Dass eine Katze sich bei uns reinschleicht, ist bisher noch gar nicht passiert. Naja, einmal schon. Da hatten wir vorher mit ihr im Garten gespielt und sie nicht im Auge behalten, als sie den Balkon erkunden wollte. Weil sie ein bisschen altersverwirrt ist, hat sie den Ausgang nicht mehr gefunden. Die war ganz schön erleichtert, als wie sie endlich wieder in den Garten bugsiert hatten. Aber zumindest passiert es seltener als Kleckern! Und Kacken plus Verschwinden müsste ja noch dazukommen. Ockham rät, die Erklärung mit den wenigsten Abnahmen zu nehmen. Die Katze wird also wegrasiert.
Ockhams Rasiermesser ist keine logisch zwingende Überlegung. Sie ist eine Hilfe, die wahrscheinlichste Erklärung zu identifizieren. Und das ist äußerst nützlich. Wenn man mal darüber nachdenkt, gibt es ziemlich wenig, das wir mit hundeprozentiger Sicherheit wissen. Um sinnvoll mit der Realität klarzukommen, muss man überlegen, welche Wirklichkeit wohl am wahrscheinlichsten ist. Das machen wir im Alltag ganz intuitiv und selbstverständlich.
Aber es lohnt sich, an Ockham zu denken, wenn man z.B. über Verschwörungstheorien nachdenkt. Einige davon sind so durchdacht, dass sie in sich logisch sind. Man findet also keinen eindeutigen Denkfehler, der einem zeigen würde, dass das alles nicht stimmen kann. Aber meistens benötigen sie eine Unzahl von unbestätigten Annahmen. Jede einzelne dieser Annahmen macht es unwahrscheinlicher, dass die Theorie stimmt. Wenn es dann gleichzeitig eine sehr einfache Erklärung für das Gesehene gibt (z.B. dass die Amerikaner halt einfach wirklich auf den Mond geflogen sind), kann man getrost rasieren. Kommt eine Verschwörungstheorie dagegen mit sehr wenigen Annahmen aus (z.B. dass irgendwer sehr skrupellos ist oder eine sehr blöde Entscheidung getroffen hat), sollte man vielleicht noch mal drüber nachdenken.
Wie gesagt ist Ockhams Messer nur eine Hilfestellung. Echte Wissenschaftler räumen valide Hypothesen hieb- und stichfest aus, auch wenn sie von Anfang an unwahrscheinlich waren. Wenn die verfügbaren Informationen dafür nicht ausreichen, werden neue geschaffen. Am besten durch gezielte Experimente, über deren Ausgang die konkurrierenden Erklärungsmodelle gegensätzliche Vorraussagen machen. So ein Experiment wäre z.B. am Fleck zu riechen. Habe ich natürlich gemacht. War Kakao.