Hui, vielen Dank für die vielen Fragen! Für #brainawarenessweek haben einige von euch mich beim Wort genommen und mir Hirnforschungsfragen gestellt. Ich fange mal mit dieser an.
Vorwarnung: Es handelt sich um eine der großen Fragen, und sie ist noch nicht gelöst. An solche Forschung musste ich denken, als ich die Fernsehserie Lost gesehen habe. Irgendwas ist total mysteriös, und man will wissen, was es damit auf sich hat. Dann erfährt man immer mehr. Die Ausgangsfrage wird irgendwie nie beantwortet, aber man weiß jetzt so viel, dass andere Fragen plötzlich viel wichtiger erscheinen. Ich versuche mal zusammenzufassen, was in den bisherigen Folgen passiert ist und wo wir stehen.
Wenn ich den grünen Kuli ansehe, erzeuge ich eine Repräsentation in meinem Hirn. Das ist der Kuli im Kopf. Woraus besteht der?
Es ist auf jeden Fall die Aktivität von Hirnzellen. Ein ganz elementares Prinzip unseres Hirns ist, dass Zellen mit vielen anderen Zellen verschaltet sind. Ist eine aktiv, läuft ein elektrisches Signal bis zu jeder einzelnen dieser Verschaltungen (Synapsen), mit denen die aktivierte Zelle andere Zellen “anfasst”. An den Synapsen wird eine bestimmte Menge Botenstoff ausgeschüttet, der in der nächsten Zelle dann auch ein elektrische Aktivierung auslöst. Der Trick: Diese Aktivierung ist viel zu klein, um irgendwas bei der angefassten Zelle auszurichten. Die Zelle wird quasi gekitzelt, muss aber noch längst nicht lachen. Damit sie auch aktiv wird, müssen mehrere Eingänge (Synapsen) gleichzeitig aktiviert werden.
Mit diesem Trick alleine kann man schon sehr viel “Computerprogramm” realisieren. Im Auge werden Zellen aktiv, wenn sie etwas grünes sehen. Andere, wenn etwas länglich ist. Dann kann man in einem späteren Hirngebiet ganz einfach Zellen machen, die nur aktiv werden, wenn etwas grün UND lang ist. Nur grün erregt die Zellen im Auge aber noch nicht die im entsprechenden Hirngebiet.
Jetzt kann man Zellen in verschiedenen Hirngebieten untersuchen, indem man ihre elektrische Aktivität misst (das sind solche Experimente, wo Tiere Elektroden im Kopf haben, was man öfter auf Photos sieht). Da sieht man tatsächlich, dass die Zellen auf immer komplexere Sachen antworten, je weiter man vom Auge weg und sozusagen “tiefer ins Hirn” geht. In frühen Stationen reagieren Zellen noch auf Linien in bestimmten Orientierungen (zb horizontal). In späteren reagieren sie nur noch auf ziemlich komplexe Gegenstände, wie zb eben Kugelschreiber.
Über die Entdeckung dieses Prinzips herrschte große Freude. Aber man hat schnell gesehen, dass das nicht alles sein kann. Wenn das nach diesem Schema immer so weiter geht, hätte ich irgendwann eine einzelne Hirnzelle, die nur aktiviert wird, wenn mein neuer grüner Kuli zu sehen ist. Und eine andere, wenn meine Großmutter zu sehen ist. Dieses Konzept nennt man Großmutterzellen. Das kann aber nicht die ganze Story sein. Sonst müssten wir irgendwo im Hirn ein Lager unbenutzter Zellen haben, und für jeden neuen Gegenstand kriegt eine als Job zugewiesen, diesen Gegenstand im Hirn zu repräsentieren. Und wenn man beim Biertrinken Pech hat (Vorsicht Kinder: Alkohol tötet Hirnzellen!), stirbt ausgerechnet diese Zelle, und ich kenne meine Oma nicht mehr.
Helle Aufregung gab es dann 2005, als fast sowas wie Großmutterzellen gefunden wurde. Wenn Epilepsie so schlimm ist, dass man den Epilepsieherd aus dem Hirn entfernt, kriegen die Patienten Elektroden ins Hirn. Dann wartet man, bis sie einen Anfall haben und kann dann recht genau sehen, wo der Herd ist, damit man nichts unnötig entfernt. Und weil diese Patienten außer Warten nichts zu tun haben, erklären manche sich bereit, bei Experimenten mitzumachen. Dann sehen die sich bestimmte Bilder an und man guckt, wie die Zellen darauf reagieren. Und da gab es Hirnzellen bei einer Frau, die nur auf die Schauspielerin Jennifer Aniston reagiert haben. Egal welche Perspektive, welcher Gesichtsausdruck, usw. Später fand man bei einer anderen Patientin auch Halle Berry Zellen. Die haben sogar reagiert, wenn die Frau nur den geschriebenen Namen gesehen hat.
Großmutterzellen sind das aber trotzdem nicht. Es gibt zu viele von ihnen, und höchstwahrscheinlich reagieren sie doch auch auf andere Sachen, die nur nicht gefunden wurden. Die gängige Vorstellung ist, dass “Großmutter” durch Aktivität einer bestimmten Gruppe von Hirnzellen im zuständigen Hirngebiet repräsentiert wird. Da gibt es viel Redundanz, so dass es nichts macht, wenn da ein paar Zellen ausfallen. Gleichzeitig ist jede Zelle auch Teil anderer Verbünde, die andere Sachen repräsentieren. Zb deinen neuen grünen Kuli.
Da gibt’s noch viele verwandte Fragen. “Kuli” ist ja eine Kategorie. Ich will einmal erkennen, dass dieser Gegenstand ein grüner Kuli ist, also zur Kategorie Kuli gehört und grün ist. Außerdem will ich erkennen, dass es genau dieser grüne Kuli ist, also ein einzelner, bestimmter Gegenstand, der zu dieser Kategorie gehört. Objekterkennung und Kategorieerkennung werden für gewöhnlich als ein gemeinsames Thema verstanden. Das ist ein Forschungsbereich, in dem die wichtigste Arbeit eigentlich aus der Psychologie kommt. Das überschneidet sich dann mit der Hirnforschung, wenn man schaut, wie sich solche Hirnzellen verhalten und mit welchem psychologischen Erklärungsmodell das am ehesten in Einklang ist.
Ist es z.B. so, dass man ganz viele einzelne Kugelschreiber kennenlernt und aus der Schnittmenge die Kategorie “Kugelschreiber” formt? Oder lernt man ganz schnell die Kategorie und merkt sich einzelne Exemplare dann nur anhand ihrer Abweichungen vom imaginären Musterbeispiel?
Es ist klar, dass man lauter einzelne Merkmale wahrnimmt. Wenn eine bestimmte Kombination aus Merkmalen gleichzeitig auftritt, sind die Voraussetzungen für die Kategorie “Kuli” erfüllt und ich erkenne, dass das Objekt vor mir einer ist. Da gibt es aber ein großes Problem. Was, wenn alle Eigenschaften von “grüner Kuli” in meinem Blickfeld sind, aber kein grüner Kuli? Da ist ein Bleistift (lang und stift-mäßig), daneben liegt ein silberner Knopf, wie er auch bei den meisten Kulis dran ist, ich sehe einen Plastikschraubdeckel von einer Flasche, einen Laserpointer zum an die Hemdtasche klipsen und ein grünes Tischtuch. Alle Zellen, die bei “grüner Kuli” an sind, dürften jetzt auch an sein. Trotzdem denke ich nicht, dass ich einen grünen Kuli sehen würde. Weil die Eigenschaften nicht zum selben Gegenstand gehören.
Es muss also irgendein Signal geben, das klar macht, dass Zellen, die gleichzeitig an sind, auch zur selben Sache gehören. Das ist das Binding Problem. Genauer, eine Version des Binding-Problems. Eine andere wäre: Wir sehen, hören, schmecken – alles völlig unterschiedliche Sinneseindrücke, die in unterschiedlichen Hirngebieten verarbeitet werden. Trotzdem nehmen wir all das als eine einheitliche Welt wahr. Da steht mein Boss, und es ist diese eine Person, die ich höre und sehe (jetzt hätte ich besser mal nicht ausgerechnet schmecken als dritten Eindruck gewählt…). Wenn man das binding problem so formuliert, rührt es bis in die Frage, was Bewusstsein ist. Warum nehmen wir eine Welt wahr und nicht lauter unzusammenhängende Einzeleindrücke? Im Prinzip ist es aber das gleiche wie mit dem Kuli. Woher wissen die verschiedenen Zellen, dass sie gerade den gleichen Gegenstand oder die gleiche Umgebung meinen?
Hier gibt es Ansätze, wo zum “wer ist mit wem verbunden und wann aktiv” auch noch kommt “mit welcher Frequenz wird gerade gefeuert”. Die Idee ist, dass Zellen, die das gleiche meinen, synchron feuern, also quasi im gemeinsamen Takt. Ob das noch der neuste Stand ist, weiß ich nicht – nicht wirklich mein Thema.
Der zweite Teil der Frage ging um Gedächtnis. Da ist in der Tat die Idee, dass es in der Stärke von Synapsen gespeichert wird. Wenn ich einen neuen Gegenstand lerne, lerne ich ein neues Muster von Zellaktivität, das diesen Gegenstand kodiert. Durch Verstärkung oder Abschwächung bestimmter Synapsen kann ich dafür sorgen, dass Aktivierung der Repräsentation dieses Gegenstandes auch andere Sachen aktiviert, zb bestimmte Emotionen oder Wörter oder eine Position im Raum. Das ist das, was Psychologen schon lange als Assoziation beschrieben haben, eine Form des Gedächtnisses. Durch solche Verbindungen kann ich auch eine zeitliche Abfolge von Geschehnissen speichern. Erst war der grüne Kuli auf dem Tisch, dann habe ich ihn in meiner Hand gespürt, dann hat sich meine Position im Raum Richtung Tür geändert, usw. Das ist schon episodisches Gedächtnis, also die Erinnerung an Geschehnisse mit zeitlichen Abfolgen.
Bei kurzzeit- und Langzeitgedächtnis gibt es einmal verschiedene Arten, eine Synapse zu stärken. Es können ein paar chemische Veränderungen dazu führen, dass pro elektrischem Signal mehr Botenstoff ausgeschüttet wird – Synapse ist stärker. Das vergeht aber schnell wieder und damit auch die Erinnerung. Eine Verknüpfung kann auch langfristig gestärkt werden, indem zum Beispiel mehr Rezeptoren für den Botenstoff eingebaut werden, die Synapse wächst oder einfach mehr Synapsen zwischen den beiden Zellen gebaut werden.
Zusätzlich kommt hinzu, dass beim Übergang vom kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis die Erinnerungen von einer Hirnstruktur in die andere verfrachtet werden, nämlich vom Hippocampus in den Cortex. Alles, was nicht im Cortex ankommt, wird vergessen, weil der hippocampus anscheinend ständig seine Erinnerungen löscht, um Platz für neue zu machen.
Ich hoffe das beantwortet Deine Frage einigermaßen. Oder hat zumindest deine Frage ge-upgradet. Die vollständige Antwort gibt’s dann vielleicht in der nächsten Staffel. Und hoffentlich ist sie befriedigender als die Unsinns-Enthüllung in der letzten Folge von Lost