Gerade gibt es im Guardian ein Interview mit Schlafforscher Matt Walker, das viel geteilt wird. Er erzählt, wie wichtig Schlaf ist und dass sein Buch gerade rausgekommen ist, in dem er noch ausführlicher erzählt, wie wichtig Schlaf ist. Matt ist ein brillianter Wissenschaftler. Er kennt sich ausgezeichnet mit der Datenlage aus. Die Aussagen, die in diesem Interview wiedergegeben werden, haben alle einen wissenschaftlichen Rückhalt. Trotzdem finde ich den Artikel unverantwortlich.
Warum das? Zuerst einmal: Medizin ist erst dann richtig gut geworden, als wir angefangen haben, sie nach wissenschaftlichen Kriterien zu prüfen. Daraus entwickelte sich das Ideal der “evidenzbasierten Medizin”. Nach diesem Ideal funktioniert auch die Zulassung von neuen Medikamenten. Es reicht nicht, dass wir einen Krankheitsmechanismus verstehen und eine Substanz entwickelt haben, die nachweislich diesen Mechanismus beeinflusst. Die Substanz muss ganz konkret in Patienten mit dieser Krankheit zeigen, dass sie auch wirklich zu einer Besserung führt.
Das ist ein Unterschied. Basisches Backpulver tötet Krebszellen in der Petrischale. Ist auch ganz logisch, Tumore erzeugen ein saures Milieu – wenn man sie daran hindert, können sie vielleicht nicht so gut wachsen. Trotzdem hilft Backpulver nicht gegen Krebs (und auch keine andere Variante der “basischen Ernährung”, aber das ist ein anderes Thema). Und zwar kein bisschen.
Das gleiche Problem habe ich mit einigen Aussagen in Matts Interview. Bei einigen Nachteilen des zu-wenig-Schlafens ist die Datenlage klar. Wer müde ist, ist dümmer, schlechter gelaunt und baut mehr Unfälle. Bei anderen ist sie zumindest sehr deutlich. Wer zu wenig schläft, isst mehr und hat mehr Lust auf hochkalorische Speisen, deswegen kann man davon ausgehen, dass er auch eher zunimmt. Bei anderen Effekten sieht man eine starke Korrelation in der Bevölkerung, zb bei Herz-Kreislauf Problemen, wie Herzinfarkt oder Schlaganfall. Ist auch logisch – Schlafmangel erhöht den Blutdruck, dazu kommt der Effekt aufs Gewicht, das ja auch noch mal zusätzlich das Risiko für Herz-Kreislaufprobleme erhöht.
Aber hier kommen wir in den Bereich, wo ich Probleme kriege. Dass uns ein Effekt ganz logisch vorkommt, heißt noch nicht, dass es auch funktioniert, damit der Krankheit vorzubeugen. Backpulver essen hilft nicht gegen Krebs. Hilft länger schlafen gegen Schlaganfall? Und wenn ja, wieviel, also wie groß ist der Effekt?
Die Antwort ist, dass wir es nicht wissen. Noch größere Unsicherheit gibt es beim Thema Schlaf und Alzheimer. Im Artikel steht, wer zu wenig schläft, hätte ein signifikant erhöhtes Risiko, Alzheimer zu kriegen. Das stimmt schon. Aber das ist nur eine Korrelation. Kann ich mein Alzheimerrisiko wirklich senken, wenn ich mehr schlafe? Die Antwort steht aus. Das ist genau das Thema, an dem auch ich arbeite.
Wenn ich einen Vortrag vor Wissenschaftlern halte oder einen Antrag auf Forschungsförderung schreibe, packe ich alle Argumente aus, die dafür sprechen, dass gesunder Schlaf wirklich gegen neurodegenerative Erkrankungen vorbeugen kann. All diese Punkte haue ich dem Zuhörer dermaßen um die Ohren, dass selbige nur so schlackern. Aber dann sind die Zuhörer Wissenschaftler. Sie können einordnen, wie aussagekräftig die Daten sind, die ich zeige.
In einem Interview mit der Presse oder einem populärwissenschaftlichen Buch können die Leser das nicht. Sie wissen nicht von selbst, dass ein einleuchtend klingender Wirkmechanismus kein Beweis für die Wirksamkeit einer Behandlung ist. Das muss ich dazusagen.
Deswegen ist mein Aufruf an alle Grundlagenforscher, dass sie in so einer Situation nicht die Perspektive eines Grundlagenforschers, sondern die eines klinischen Forschers einnehmen. Dass den Menschen etwas hilft, steht erst fest, wenn es gezeigt ist. Vorher haben wir nur Hypothesen und Modelle. Manche davon sind gut unterstützt, andere stehen erst am Anfang.
Man kann sich darüber streiten, wie stark die Evidenz sein muss, bevor man einen Ratschlag herausgibt, der Menschen dazu bringen kann, ihr Leben einzuschränken. Im Schlaffeld würde ich sagen, der kausale Zusammenhang von Schlafmangel und Übergewicht so wie kardiovaskulärem Risiko ist ausreichend stark gezeigt, dass man Leuten dazu raten sollte, ihren Schlaf langfristig ernst zu nehmen. Ein kausaler Zusammenhang mit Alzheimer ist nicht annähernd so gut gezeigt. Zu diesem Zeitpunkt halte ich es für reine Angstmache, wenn jemand die Alzheimerkeule auspackt, um Leute zum längeren Schlafen zu bewegen. Ob man so einen Ratschlag auspacken sollte, hängt einerseits davon ab, wie gut die Evidenz ist und andererseits, wie stark die Einschränkung für denjenigen wäre, der sich an den Rat hält.
Wie wichtig es ist, da sorgsam zu sein, zeigt der aktuelle Wirbel um Methadon zur Krebsbehandlung. Forscherin Claudia Friesen fand, dass Methadon in Zellkultur die Wirkung von Chemotherapie gegen Krebs verstärkt. Im Tierversuch mit Mäusen hat sich das bestätigt. Im Interview erzählte sie das so, wie sie es Wissenschaftlern oder Forschungsförderern erzählen würde. Im Gegensatz zu denen wissen aber ihre Zuhörer (einschließlich anscheinend der Redaktion von Plusminus) nicht, dass da noch ein riesiger Schritt fehlt, bevor man Methadon wirklich zur Einnahme empfehlen kann. Und jetzt haben wir lauter Krebspatienten, die versuchen, ihre Ärzte zu überreden, ihnen Methadon zu verschreiben. Oder noch schlimmer, sie besorgen es schwarz und dosieren es auf eigene Faust. Und im Netz überschlagen sich die Foren mit aufgeregtem: “siehste, big Pharma und big Wissenschaft wollen gar keinen Krebs heilen, sonst hätten sie nämlich schon längst Methadon zur Krebsbehandlung zugelassen!”
Meine Bitte an Wissenschaftler: Macht euch bewusst wer zuhört. Sagt die Sachen dazu, die eure Zuhörer wahrscheinlich nicht wissen, auch wenn sie eure Ergebnisse unspektakulärer machen.
Meine Bitte an alle: macht euch damit vertraut, was evidenzbasierte Medizin ist. Lernt den Unterschied zu Grundlagenforschung. Ein Grundlagenforschungsergebnis zu Krebs oder Alzheimer kann total geile Wissenschaft sein aber trotzdem (noch) keine Implikationen für gesundes Verhalten haben. Das schließt sich nicht aus.