Nach meinem letzten Post über die Masernimpfung wurde ich folgendes gefragt: Kann ja sein, dass in den letzten 10 Jahren mindestens 29 Menschen (siehe Korrektur unten) in Deutschland an den Spätfolgen von Masern gestorben sind – aber wie viele sind an den Spätfolgen der Impfung gestorben?
Das ist eine sehr gute Frage. Ein Risiko kann man immer nur beurteilen, wenn man es mit dem Risiko der Alternativen vergleicht. Wenn ich etwas esse, könnte ich mich verschlucken und sterben. Wenn ich nichts esse, werde ich sicher verhungern. Essen ist also die bessere Wahl, obwohl nicht völlig risikolos.
Impfschäden werden in Deutschland vom Paul Ehrlich Institut gesammelt. Wer nach einer Impfung Probleme hat, kann sich da melden (entweder direkt oder über den Arzt). Die untersuchen dann, wie wahrscheinlich ein Zusammenhang mit der Impfung ist. Das hört sich dann so ähnlich an wie die Krebsrisiko-Gutachten der WHO/IARC (die mit Glyphosat, Wurst und Schichtarbeit): gesichert, wahrscheinlich, möglich, unwahrscheinlich oder “nicht zu beurteilen” (weil nicht genug Daten zur Verfügung stehen).
Auf die Art finden wir heraus, ob ein Impfstoff unerwartete Probleme macht und gegebenenfalls gegen ein anderes Präparat ausgetauscht werden sollte.
Wie gefährlich ist jetzt die Masernimpfung? Für den Zeitraum mit den 29 Maserntoten (2007-2017) habe ich keine Daten gefunden. Es gibt aber eine Veröffentlichung über einen ähnlich großen Zeitraum, Anfang 2001 bis Ende 2012. Dort wurden Verdachtsfälle auf verschieden schwere Impfschäden gemeldet, 16 davon mit tödlichem Ausgang. Bei 6 davon wurde ein Zusammenhang mit der Impfung als unwahrscheinlich bewertet, weil die Todesursache überhaupt nicht gepasst hat. Zb wurde bei einem Säugling festgestellt, dass er an etwas zu essen erstickt war. Bei 9 war das Urteil “nicht zu beurteilen”.
Gehen wir mal vom Schlimmsten aus und stellen uns vor, dass alle 9 wirklich durch die Masernimpfung gestorben wären. Dann stünden diese 9 Todesfälle durch Impfung den 29 durch Masern gegenüber.
Allerdings ist das ja nur der Fall, wenn die Meisten geimpft sind. Wenn wir jetzt aus Angst vor dem Risiko mit der Masernimpfung aufhören würden, sänken die 9 Todesfälle natürlich auf 0. Aber gleichzeitig würden die Todesfälle durch Masern weit über 29 hinausgehen. Ganz weit.
Wenn man abwägen will, ob die Impfung ein höheres oder niedrigeres Risiko als die Krankheit darstellt, muss man also überlegen, wieviele Todesfälle die Impfung insgesamt verhindert hat.
Ich habe keine Zahlen für Deutschland vor Einführung der Masernimpfung gefunden. Aber auf Wikipedia gibt es eine schöne Graphik für USA. Da gab es vor Einführung der Impfung pro Jahr 500.000 Erkrankungen. Wieviele von denen dann sterben, hängt natürlich von der medizinischen Versorgung ab. Eine häufige Komplikation bei Masern ist die Lungenentzündung. Da kann ein gutes Krankenhaus viel rausreißen. Anders sieht es aus bei der furchtbaren Hirnentzündung, die erst etwa 6 Jahre nach der Maserninfektion auftritt und immer tödlich verläuft (SSPE). Die kommt nach der neuesten Erhebung etwa in einem Erkrankten pro 2000-3000 vor. Wenn wir davon ausgehen, dass bei ungehindert grassierenden Masern so 100.000 Menschen pro Jahr in Deutschland erkranken würden, müssten wir also mit 30-50 Toten im Jahr alleine durch SSPE rechnen. Aber weil die Ärzte auch nicht zaubern können und sich immer wieder jemand anstecken würde, der eh schon angeschlagen wäre, wäre die wirkliche Sterberate viel höher.
Laut WHO starben allein im Jahr 2000 535.300 Menschen weltweit an Masern. Im Jahr 2010 konnte diese Zahl stark reduziert werden. Durch Impfungen. Sie betrug aber immer noch 139.300. Die Seite scienceheroes (tolle Seite, übrigens) schätzt, dass die Masernimpfung seit Einführung 133 Millionen Menschenleben gerettet hat.
Die Frage, ob die Masernimpfung mehr nützt oder mehr schadet, ist also zwar nicht ganz so eindeutig wie die Frage, ob man lieber essen oder hungern sollte. Die Abwägung der Risiken ergibt aber dennoch ein glasklares Ergebnis. Die Impfung rettet Leben. Und zwar verdammt viele.
Solche Abwägungen macht in Deutschland übrigens die ständige Impfkommission (Stiko). Die beziehen nicht nur Todesfälle ein, wie ich das hier auf die Schnelle gemacht habe, sondern berücksichtigen auch andere Risiken. Zb schädigt Mumps oft die Hoden und führt zu Unfruchtbarkeit. Das alles miteinzubeziehen ist gar nicht so leicht. Deswegen ist es gut, dass wir in Deutschland unabhängige Experten haben, die das machen.
Bei manchen Impfungen würde für einen normalen Bürger das Risiko überwiegen oder zumindest die Kosten nicht gerechtfertigt sein. Deswegen empfiehlt die Stiko auch bei weitem nicht alle Impfungen, die auf dem Markt sind. Die Empfehlungen, die es gibt, haben aber einen guten Grund. Auch der empfohlene Impfzeitpunkt hat einen guten Grund. Eine Impfung verweigern oder den Zeitpunkt zu verzögern stellt ein unnötiges Risiko dar.
Korrektur (24.05.2019): Vorher stand hier 280 Todesfälle durch Spätfolgen von Masern. Das beruhte aber auf einer falschen Meldung. 29 ist die korrekte Zahl https://www.welt.de/politik/deutschland/article174093863/Zahl-der-Maserntoten-Regierung-muss-Impfgegnern-in-einem-Punkt-recht-geben.html
Quellen: die Zahlen der WHO sind von Wikipedia https://de.m.wikipedia.org/wiki/Masern?wprov=sfla1
Hier sind scienceheroes mit geretteten Leben pro wissenschaftlichem Durchbruch: https://www.scienceheroes.com/index.php
Häufigkeit von SSPE: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371%2Fjournal.pone.0068909
Auswertung des Paul Ehrlich Instituts von gemeldeten Impfschäden nach Masernimpfung: https://rd.springer.com/article/10.1007%2Fs00103-013-1792-4
Diskussion mit weiteren interessanten Links unter dem Originalpost auf FB https://www.facebook.com/LarsUndDieWelt/posts/2008264266086877?__tn__=K-R