All unser Denken, Fühlen, Handeln passiert im Gehirn. Gut, das Handeln passiert dann auch draußen, aber vom Hirn wird es entschieden und gesteuert. Kleine Änderungen in der Aktivität bestimmter Hirnzellen ändern z.B. unsere Gefühlslage. Kleine Änderungen der Stärken ihrer Verbindungen untereinander ändern z.B, welches Ereignis welches Gefühl auslöst. Etwa ob wir finden, dass Last Christmas rockt oder sich eher schon ein bisschen abgenutzt hat.
Diese Konzepte kennen wir schon seit vielen Jahrzehnten. Seit dem versuchen wir, immer besser zu verstehen, welche Hirnteile was machen und vor allem wie sie es machen. “Ja, dieser Bereich ist für das Erkennen von Gesichtern zuständig. Aber wie genau entscheidet der, welches Gesicht ich gerade sehe? Warum braucht es dafür so viele Hirnzellen? Welche Rolle spielt Zelltyp X und welche Zelltyp Y? Und welche Verbindungen müssen jetzt konkret ihre Stärke wie ändern, damit ich mir das Gesicht vom Wendler merken kann?”
Wäre es da nicht krass, wenn wir einfach JEDE EINZELNE Hirnzelle kennen würden? Und JEDE EINZELNE Verbindung, die jede Hirnzelle mit anderen Hirnzellen hat?
Genau das ist das Ziel der connectomics oder eingedeutscht Konnektomik. Das ist ein – sagen wir mal – ehrgeiziges Ziel. So ein Gehirn hat nämlich verdammt viele Zellen mit ca verdammt viele mal tausend Verbindungen zwischen ihnen. Um wirklich einzelne Verbindungsstellen, also Synapsen, zu sehen, muss man mit dem Elektronenmikroskop schauen. Und da passen nur echt kleine Sachen drunter. Die in verdammt dünne Scheiben geschnitten sind. Selbst wenn es ein Elektronenmikroskop gäbe, das ein ganzes menschliches Gehirn auf einmal mikroskopieren könnte, bräuchte ein Doktorand, der erstmal jede Synapse per Mausklick markieren sollte, nach meiner Rechnung dafür ca 3 Millionen Jahre. Ohne Kaffeepause. Wäre zwar nicht das unrealistischste Promotionsprojekt, das mir je untergekommen wäre, aber doch zumindest eins mit Fragezeichen.
Ihr seht, connectomics ist ein ehrgeiziges Unterfangen mit großen Herausforderungen an Big Data Analysis und an die Mikroskopiermethoden, die davor kommen müssen.
Jetzt kommt gerade eine Studie raus, die einige dieser Herausforderungen ein Stück weit gemeistert hat. Dafür haben sich WissenschaftlerInnen der amerikanischen Forschungseinrichtung Janelia in Zusammenarbeit mit der Forschungsabteilung von Google das Gehirn einer weiblichen Fruchtfliege vorgeknöpft. Sie haben eine Methode ausgetüftelt, wie man ein ganzes Fliegenhirn an einem Stück “einbetten” kann (einbetten bedeutet, das Gewebe stabil und kunststoffartig machen, ohne die mikroskopische Struktur zu ändern – ähnlich wie zb bei den Körpern in der Körperwelten-Ausstellung). Dann haben sie “neuster Scheiß”-Mikroskopiertechnik benutzt, bei der erst die Oberfläche per Rasterelektronenmikroskopie aufgenommen, dann die oberste Schicht mit einem Ionenstrahl weggezischt, dann die neue Oberfläche wieder aufgenommen wird. Schicht für Schicht, bis das ganze Gehirn weggeionenstrahlt ist. Science, baby! In der Science-Fiction-Reihe Bobiverse wird auf diese Art auch der Inhalt eines Gehirns ausgelesen, um ihn auf einen Computer aufzuspielen. Deswegen können im Bobiverse keine lebendigen Menschen auf Computer geladen werden. Aber ich schweife ab.
Diesen Datensatz haben die ForscherInnen digital zu einem 3D-Bild zusammengesetzt und mittels Machine Learning einzelne Neuronen, ihre Ausläufer und Synapsen lokalisiert. Das haben sie nicht für das ganze Fruchtfliegenhirn gemacht. Nur für einen wichtigen Teil und davon auch nur eine Hälfte (linke und rechte Hälfte sind aber weitgehend gleich, nur spiegelverkehrt). Insgesamt 25.000 Neurone und ca 20 Millionen Synapsen.
Im so gescannten Teil des Hirns finden super interessante Sachen statt, die Fruchtfliegen so können. Z.B. Lernen, räumliche Orientierung und – haltet Euch fest – Kontrolle von Schlaf und circadianem Rhythmus! Geilomat! Wer an irgendwas davon forscht, kann jetzt für seine untersuchte Hirnzelle(n) einfach im Konnektom-Datensatz nachsehen, von wo sie Signale empfängt und nach wo sie Signale sendet. Und zwar nicht nur in welche Hirnregion, sondern zu welchen einzelnen Zellen. Im Gegensatz zum Menschen sind die einzelnen Hirnzellen bei Fruchtfliegen auch sehr Stereotyp. Man findet also eine ganz bestimmte Hirnzelle – nennen wir sie Peter – bei einem anderen Fruchtfliegenweibchen mit hoher Wahrscheinlichkeit an der gleichen Stelle mit gleichen Verbindungen und gleicher Funktion wieder. ZB gibt es in jeder Fliegenhirnhälfte genau eine Hirnzelle – nennen wir sie Klaus – die per Dopaminausschüttung die Fliege wach macht. (Bei uns Säugern ist der Bauplan nicht so stark bis zur Ebene einzelner Zellen festgelegt, nur bis zur Ebene von Zellgruppen. Findet man in einem Menschen eine Hirnzelle namens Peter Neumann, würde man die in einem anderen Menschen nicht wiederfinden. Sehr wohl aber die Neumanns.)
Auf seiner Website vergleicht Janelia das Fruchtfliegen-Konnektom mit dem Erfolg beim Fruchtfliegen-Genom. Bei den Fruchtfliegen war man in der genetischen Forschung den Mäusen oder Menschen immer voraus. Viele genetische Prinzipien sind in Fruchtfliegen verstanden worden, was die Forschung an Säugern inklusive Menschen enorm vorangebracht hat. In der Neurowissenschaft könnte sich das jetzt wiederholen. Bei der Entschlüsselung des circadianen Rhythmus ist es auch so gelaufen. Für die Erforschung von Schlafhomöostase zeichnet sich gerade etwas ähnliches ab. Bei Fruchtfliegen hat man einfach technisch bessere Möglichkeiten, was zu schnelleren Fortschritten führen kann. Die Verfügbarkeit eines Konnektoms eines großen Teil des Gehirns ist von jetzt an auch eine dieser tollen Möglichkeiten, die es so nur für Fruchtfliegen gibt. Das ist das größte Konnektom eines zusammenhängenden Hirnteils, das es je gab.
Das gesamte, vollständige Fruchtfliegenhirn hat insgesamt ca 135.000 Neurone (beide Hälften zusammen). Wäre also noch ein Stück zu tun, das vollständig zu “digitalisieren”. Aber ratet mal, was in dem aktuellen Paper angekündigt wird. Sie sind wohl schon dabei, zum Vergleich das Hirn einer männlichen Fruchtfliege zu scannen. Und weil sie kontinuierlich weiter an der Verbesserung der Methoden arbeiten, sind sie diesmal anscheinend schon in der Lage das gesamte Fliegenhirn zu scannen, nicht nur einen großen Teil. Einfach mindblow.
Man darf natürlich nicht denken, wenn man das Konnektom eines Gehirns hat, hätte man das Gehirn schon verstanden! Das hat die Neurowissenschaftlerin Eve Marder mal sehr eindrücklich in einem Vortrag klar gemacht, den ich vor Jahren gehört habe. Sie arbeitet an einem Netzwerk von ca 30 Neuronen, die in Krebsen die Verdauung steuern. Welche das sind und wie sie verbunden sind – also ihr Konnektom – ist schon ewig bekannt. Ab da ging die wichtigste Forschung erst los. Auch Jahrzehnte später ist noch nicht vollständig verstanden, wie genau dieses kleine Netzwerk zwischen den verschiedenen Rhythmen wechselt, die beim Krebs verschiedene Aktivitäten der Verdauungsorgane verursachen. Es gibt einfach irre viele Stellschrauben, die durch kleine Effekte an Zellen oder Synapsen völlig verändern, was das gesamte Netzwerk macht. Z.B. Neuromodulatoren oder gap-junctions (Verbindungen zwischen Zellen, die nochmal anders funktionieren als die Standardsynapsen). Anzunehmen, dass solche Sachen mit einem größeren Netzwerk (wie z.B. einem Fliegengehirn) einfach nur noch komplexer werden und noch kleinere Stellschrauben noch größere Effekte haben können. Aber eines ist klar: Das Konnektom ist ein extrem wichtiger Schritt, wenn wir da jemals so richtig durchsteigen wollen. Und wir erleben mit, wie das erste Konnektom eines Gehirns entschlüsselt wird. Zumindest erstmal eines Fliegenhirns. What a time to be alive!
So, hier gibt’s das Paper zum neuen Rekord-Konnektom zum selber lesen: https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2020.01.21.911859v1