Zur Zeit sehe ich in Onlinediskussionen viel Streit darüber, ob Covid-19 jetzt megagefährlich ist oder in Wirklichkeit nur ein kleines Bisschen. Zu erst einmal: Das halte ich für eine falsche Dichotomie. Die Daten, die wir live während der Pandemie erhalten, haben alle eine Unsicherheit. Wir können wichtige Größen wie Sterblichkeit und Reproduktionszahl nicht genau bestimmen, sondern nur einen Bereich angeben, in dem sie höchstwahrscheinlich liegen. Aus der Kombination mehrerer solcher unscharfer Bereiche ergibt sich ein relativ breites Fenster möglicher Szenarien – von vergleichsweise glimpflich bis Monsterkatastrophe.
Jetzt ist es so, dass mit den heute verfügbaren Zahlen ein ernsthaft schlimmer Verlauf der Epidemie in Deutschland nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich ist – es sei denn, wir treffen halt geeignete Gegenmaßnahmen. Wir sehen in Mailand, Madrid oder New York, dass die Zahlen der schwer Erkankten explodieren und die örtlichen Krankenäuser mit der Versorgung bereits überfordert sind. Schlimmeres ist zu befürchten. Welchen Spielraum gibt es da noch für Interpretationen, dass alles vielleicht doch nicht ganz so schlimm wird oder massive Gegenmaßnahmen übertrieben wären?
Der Knackpunkt ist die Dunkelziffer. Wir wissen, dass kein Land der Welt es schafft, jeden einzelnen Fall zu identifizieren. Gerade weil wir wissen, dass viele Menschen einen milden Verlauf haben – etwa nur ein Kratzen im Hals – müssen wir davon ausgehen, dass eine beträchtliche Zahl der Fälle unterm Radar bleibt.
Die Dunkelziffer könnte ein großes Problem für die Kontaktverfolgung bedeuten. Eindämmung der Krankheit durch Identifizierung und Isolierung von Menschen, die mit einem Covid-19 Patienten Kontakt hatten, ist laut WHO die mit Abstand beste Möglichkeit, die Ausbreitung wirklich zu stoppen. Dazu muss man nicht einmal alle angesteckten Kontakte erwischen. Es reicht, die meisten zu erwischen. Eine hohe Dunkelziffer würde bedeuten, dass wir nicht die meisten erwischen, und die Kontaktverfolgung nicht gut genug machen, um die Krankheit eindämmen zu können. Diese Studie kommt z.B. zum Ergebniss, dass in Frankreich und Spanien die Zahl der Infizierten mehr als doppelt so hoch ist wie die der offiziell Bestätigten, in Italien mehr als sechsmal so hoch, in China fast neunmal so hoch. Kacke. Echt hoch.
Allerdings: Wenn die Dunkelziffer nicht nur echt hoch, sondern unglaublich hoch wäre, wäre das plötzlich nicht mehr etwas Schlechtes, sondern etwas Gutes. Denn diese ganzen zusätzlich infizierten hätten ja alle milde Verläufe, sonst wären sie in den Krankenhäusern aufgelaufen. Die Zahl der Todesopfer und derjenigen, die auf die Intensivstation müssen, würde gleich bleiben. Aber bei einer höheren Gesamtzahl der Infizierten würde das bedeuten, dass der ANTEIL der Schwerkranken und Verstorbenen viel kleiner wäre.
Die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie geht in ihrer Modellrechnung vom 18.3. davon aus, dass 2-6% der Infizierten auf die Intensivstation müssen. Bei ca 30.000 Intensiv-Betten heißt das, dass wir schnell an unsere Grenzen stoßen werden. Der größte Teil der Epidemie liegt ja noch vor uns. Wenn jetzt aber die echte Zahl der Infizierten wegen der Dunkelziffer nicht nur doppelt oder zehnfach, sondern hundertfach über der bekannten Zahl liegen würde, würde das die Situation ändern. Die Intensivstation-Rate könnte so niedrig sein wie 0.02%. Dann wären es in den schlimmsten zwei Monaten nur noch ein paar Tausend, die gleichzeitig so einen Platz benötigen würden. Mit ein bisschen flatten-the-curve und Aufstockung der Kapazitäten wäre das völlig stemmbar. Wir wären auch schon viel weiter in der Epidemie. Nicht erst Hunderttausend, sondern schon zehn Millionen hätten sich bereits infiziert – schon der halbe Aufstieg zum Peak geschafft (mit diesem Simulator kann man sich solche Sachen schön ansehen). Dann würde es auch so krass hohe Dunkelziffern in Italien, Spanien und USA geben. Die wären zwar jetzt gerade überlastet, aber eben schon fast über den Berg, nicht erst ganz am Anfang.
Also, sollten wir megahohe Dunkelziffern haben, wäre Covid-19 am Ende nicht so schlimm wie befürchtet. Wie hoch die Dunkelziffer in Deutschland tatsächlich ist, werden wir bald wissen. Es wird gemeldet, dass repräsentative Stichproben zuerst in München und dann deutschlandweit getestet werden. Erste Ergebnisse aus München soll es in wenigen Tagen bis Wochen geben.
Was heißt diese Überlegung für uns? Das “vielleicht nicht so schlimm” Argument wird meistens angeführt um zu belegen, dass die aktuellen Maßnahmen zum social distancing (Ausgangsbeschränkungen, etc) völlig unverhältnismäßig wären. Das überzeugt mich nicht. Wir können zwar bislang nicht ausschließen, dass die Dunkelziffer tatsächlich so hoch ist. Aber wir haben auch keinen Grund, das anzunehmen. Es ist reine Spekulation. Unsere Politik darauf ausrichten wäre, wie beim Glücksspiel alles auf eine Zahl zu setzen.
Die bislang verfügbaren Zahlen lassen uns davon ausgehen, dass die Dunkelziffer eben sehr viel niedriger ist. Zum Beispiel macht Südkorea enorm viele Tests und von Anfang an sehr erfolgreiche Kontaktverfolgung. Die Dunkelziffer bei denen sollte also sehr gering sein. Die Verstorbenen pro bekannt Infizierten sind bei denen aber etwa so viele wie bei uns. Deswegen sollte auch die Dunkelziffer bei uns nicht sehr viel höher sein. Wenn eine dramatische Überlastung unseres Gesundheitssystems mit Hunderttausenden Toten eine realistische Bedrohung ist, müssen wir doch dementsprechend handeln. Und nach den bislang verfügbaren Daten ist dieses Szenario nicht nur realistisch sondern wahrscheinlich.
Ich glaube wir sind uns alle einig, dass es besser ist, das alles genauer zu wissen. Es wäre aber Unsinn, auf die Ergebnisse dieser repräsentativen Erhebungen zu warten, bevor wir etwas gegen die Ausbreitung von SARS-CoV-2 unternehmen. Die Ausbreitung eines neuen Virus, das unsere Immunsysteme nicht kennen, verläuft exponentiell. Nennenswert etwas ausrichten kann man nur, wenn man früh handelt. Wir wollen doch nicht Studien abwarten, die uns dann sagen, dass wir vor einem Monat wirklich dringend etwas hätten tun sollen.
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